Einer für alle – alle für einen
15 bleiche Köpfe liegen wie abgeschlagen auf weiß angeleuchteten Kisten und es werden in einer schier endlosen Reihung die Namen der Toten verlesen. Mit diesem eindrucksvollen Bild beginnt die Inszenierung „Erinnere Dich!“ des Kurses Darstellendes Spiel Jg. 12 des Ratsgymnasiums Wolfsburg unter der Leitung von Ulrich Stracke. Als der Name „Anne Frank“ auftaucht, ahnt man zwar schon Schlimmes, aber man weiß es eben noch nicht genau.
Erleichterung zunächst, als es weitergeht mit einer Truppe Pfadfinder, die sich offensichtlich im Wald verlaufen hat und sich, wie ganz normale Jugendliche, nun gegenseitig die Schuld zuschiebt, wer hier die App nicht bedienen kann, wer das Essen macht und dass die blöden Pollen einem auch echt jeden Ausflug vermiesen können. Es scheint ein Filmprojekt geplant zu werden, wie jedes Jahr zu Chanukka – aha – eine jüdische Pfadfindertruppe. Sie wollen „Schneewittchen“ spielen und müssen dazu in den Wald verschwinden, weil sie zuhause nicht mehr sicher sind. Oh! Wieso denn? Was ist los?
Nach und nach vermischen sich die Spielebenen. Auf einmal ist von der Hitlerjugend die Rede, die die Gruppe verfolge und aus dem Gebüsch bricht Fredi, ein Trainer, der sich der Gruppe anschließen möchte und sie aus der Irre führen kann, weil er sich im Wald auskennt. Auch er muss, so scheint es, flüchten. Sind wir nun in der 30er Jahren des letzten Jahrhunderts?
Es geht weiter in eine Synagoge. Sehr effektvoll und einfach gelöst durch eine passende, V-förmige Bühnenformation der Spieler*innen und einen Chanukka-Leuchter an der Spitze. Wie überhaupt das Bühnenbild nur aus wenigen Requisiten und weißen Kisten besteht, die völlig ausreichen, um uns nicht nur an unterschiedlichste Orte, sondern auch in unterschiedliche Zeitebenen zu versetzen.
Auf einmal fallen Schüsse – aber die Türe vorne (zwei Stäbe mit Tuch) hält die Angreifer fern. Sind wir in der Stadt Halle? Was passiert hier? Ein Mord auf der Straße kann von den fassungslosen Jugendlichen über eine Webcam beobachtet werden. „Einfach erschossen – einfach so!“ Man fühlt sich wieder in die 30er Jahre versetzt, ins Ghetto von Warschau oder Theresienstadt. „Einfach erschossen – einfach so!“ Nur, dass in dem Stück die Fotos offensichtlich sofort ins Netz gestellt werden. Beklemmende Aktualität – wiederholt sich die Geschichte?
Die Überlebenden beginnen, Selbstverteidigungskurse zu belegen und versuchen, den Schrecken zu verdrängen, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sind ja auch Jugendliche. Ab in den Club zur Mottoparty „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. Hier kommen sich zwei junge Frauen näher und werden zu einem Liebespaar.
Doch der Zuschauer hat zu früh aufgeatmet. Es gibt eine Razzia und alle Freunde landen in unterschiedlichen Lagern – sehr schnell stellt sich heraus, dass sie in Auschwitz sind. „Arbeit macht frei“ ist der Slogan, den die Nazis verhöhnend über das Tor schrauben ließen, durch das Millionen Juden mussten, dem sicheren Tod entgegen. Symbolisch werden schwarze Kartons auf der Bühne aufgereiht, die das Wort „Arbeit“ bilden. Auch hier wieder gelungene, zarte Mehrdeutigkeiten – auch hier könnte man sich im Jetzt oder im Damals befinden.
Die permanente Verschiebung der Zeitebenen schafft nachdrücklich und mühelos den Bezug zwischen aktuellen Diskriminierungen und historischem Zeitgeschehen. Zumal jetzt auch die lesbische Liebesbeziehung gefährlich erscheint– standen Homosexuelle doch bei den Nationalsozialisten teilweise noch unter den jüdischen Häftlingen. Die ehemalige Selbstverteidigungslehrerin findet sich in der Rolle eines Funktionshäftlings wieder und muss für den reibungslosen „Ablauf“ ihrer eigenen Vernichtung und der ihrer Freunde sorgen. Als ihre Jugendliebe auch ins KZ eingeliefert wird, kann sie die Spannungen nicht mehr aushalten – und stirbt. Hier finden wir uns kurz im Märchen vom Schneewittchen wieder, das ja bekanntlich an einem vergifteten Apfel erstickt. Die Parallelen zwischen dem Märchen und der Situation jüdischer Häftlinge in ihren unterschiedlichen, ihnen von den Nazis aufgezwungenen Rollen werden hier am deutlichsten. Sie erstickten ebenfalls an den vergifteten Bissen, die ihnen die Herrscher zusteckten.
Allerdings geht das Märchen gut aus – der Prinz rettet Schneewittchen und sie leben glücklich bis an ihr Lebensende. Dieses Glück hatten im Zweiten Weltkrieg nur wenige Juden. Und diese müssen nun die Erinnerungsarbeit leisten, die uns alle angeht.
Wir sind Stolpersteine – erinnere dich!
Ein sehr erschütterndes, monatelang erarbeitetes Stück mit großartigen jungen Schauspieler*innen. Die Textvorlage „Schneewittchen im KZ“ des Autors Thor Truppel, der sogar selbst zur Premiere nach Braunschweig gekommen war, diente als Anregung für die thematische Auseinandersetzung. Schülertheater, wie man es selten sieht. Genau gearbeitet, sehr viel Text, den man auch erstmal auswendig lernen muss, exakt eingesetzte, wenige Requisiten und Kostüme und wenige Theatereffekte. So gelingt die Konzentration auf das Wesentliche und die Zuschauer*innen spenden begeistert den verdienten Applaus!
Agnes Koller
Erinnere dich! – damit es nicht erneut passiert
Was wäre, wenn…? Was wäre, wenn die Vergangenheit erneut auflebt? Wenn die Diskriminierung einzelner Personengruppen, die Unterdrückung der Juden und Homosexuellen, wieder auflebt? Damit hat sich der DS-Kurs des 12. Jahrgangs des Ratsgymnasiums Wolfsburg beschäftigt und seine Auseinandersetzung dem Publikum am 7. Juni 2023 in der Brunsviga in Braunschweig vorgestellt. In ihrem von Thor Truppels Text „Schneewittchen im KZ“ inspirierten Stück „Erinnere Dich!“ präsentieren sie den ZuschauerInnen die mitreißende Reise einer Gruppe jugendlicher Juden im Jahre 2023, von anfänglicher Freude bis hin zu einem Ende im Konzentrationslager.
Wo zu Beginn noch ausgelassene Freude zu herrschen scheint, stellt sich rasch heraus, dass hinter der Fassade der Hass anderer die Gruppe übermannt, dass selbst zum Erproben eines Theaterstücks die Flucht in den Wald ergriffen werden muss. Das Märchen „Schneewittchen“, welches die Gruppe für ihren alljährlichen Theaterauftritt zu Channukka plant, beginnt sich als hervorragendes Leitmotiv zu entwickeln, welches die Gruppe und damit auch das Publikum während des gesamten Stücks begleitet.
Da aus der Aufführung nichts wird, gibt’s eine Mottoparty im Club, das Thema: Schneewittchen. Ausgelassenes Feiern und das sich innige Näherkommen zweier Mädchen wird durch das Stroboskoplicht und den Wechsel der Musik verstärkt.
Dann plötzlicher Stimmungswechsel. Die Musik stoppt. Eine Razzia. Die ausbrechende Panik ist durch die wild umher und von der Bühne rennenden SchauspielerInnen deutlich spürbar.
Anschließend folgt ein Zeitsprung. Die Jungen sind nun Gefangene in einem Konzentrationslager. Sie stellen sich Fragen zu den Umständen. Werden sie und die anderen wieder zusammenfinden? Wieso müssen sie arbeiten?
Die Handlung findet schließlich in verschiedenen Lagern statt. Tabea und Ada, welche sich nach langer Zeit der Trennung wieder treffen, erfahren von Auschwitz. Die Verwirrtheit darüber, auf wen man sich verlassen kann und wie man zueinander steht, bringen die SchauspielerInnen, wenn auch zum erneuten Male mit viel Text, sehr gut zum Ausdruck, beispielsweise, indem sie sich immer wieder annähern und voneinander entfernen.
Wo zu Beginn noch eine Vielzahl an Requisiten das Bühnenbild prägt, werden es nach kurzer Zeit nur noch wenige Kästen, welche geschickt immer wieder umgruppiert werden, um eine neue Szene einzuleiten. So entwickeln sich eine Party in einem Club oder auch ein Arbeitslager, in welchem die Jugendlichen gefangen gehalten werden.
Schon von Beginn an haben außerdem drei SchauspielerInnen in Form von Stolpersteinen Namen und Ereignisse nach wahren Begebenheiten aufgezählt, was die Handlung dem Publikum sehr zugänglich macht und der Inszenierung Authentizität verleiht. Durch die abwechselnd chorisch aufgelisteten Namen und Ereignisse wird diesem Aspekt des Stückes gleich zu Beginn eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Trotz zeitweise sehr langer Szenen schafft es die Gruppe, die Begeisterung des Publikums zu wecken, was sich auch in dem herzlichen Applaus am Ende widerspiegelt.
Obwohl viele der SchauspielerInnen sehr lange auf der Bühne stehen, schaffen sie es von Anfang bis Ende eine starke Präsenz auszustrahlen und durch eine starke schauspielerische Leistung zu überzeugen.
Leonie Walter (Schülerin 12. Klasse des Theodor-Heuss-Gymnasiums Göttingen)
Erinnere dich!
Eine unglaublich talentierte Gruppe des 12. Jahrgangs vom Ratsgymnasium Wolfsburg präsentiert den wenigen, aber sehr aufmerksamen Zuschauern ihr Stück „Erinnere dich!“. Die Verschmelzung von Märchen und Geschichte, nach der Vorlage „Schneewittchen im KZ“ von Thor Truppel, ist den insgesamt 17 Mitwirkenden exzellent gelungen.
Eine Gruppe jüdischer Pfandfinder wurde von der Hitlerjugend vertrieben, ihre Familien mussten flüchten. Doch wir befinden uns nicht im frühen 20. Jahrhundert, wir sind im Hier und Jetzt! Sie sind auf sich allein gestellt und durchlaufen eine große Entwicklung, bis sie sich im Konzentrationslager wiederfinden.
Unterdrückung, Hass und Attentate sowie Romantik, Freundschaft und Zusammenhalt werden von der jungen Gruppe hervorragend thematisiert. Die schrecklichen Ereignisse des Nationalsozialismus und das teilweise klischeehafte Märchen „Schneewittchen“ verknüpft der DS-Kurs aus Wolfsburg gekonnt und dreht zudem die Vorlage „Schneewittchen im KZ“ völlig um – dies aber äußerst erfolgreich!
Das mit beeindruckend langen und intensiven Dialogen und Monologen versehene Theaterstück unterhielt das gebannte Publikum ganze 65 Minuten, was sich jedoch eher wie eine knappe halbe Stunde anfühlte. Die wenigen Blacks und die überlegt eingesetzten Ton- und Lichteinrichtungen hielten die Spannung über das ganze Stück hinweg am Limit.
Ein klarer Unterschied zwischen dem alten und neuen Leben war zu erkennen, denn zu Beginn waren eine ganze Reihe an Requisiten vorhanden, die aber bald auf wenige wiederkehrende Gegenstände reduziert wurden, welche, klug eingesetzt, halfen, dem teils schweren Inhalt des Stücks zu folgen.
Wie wir in der Nachbesprechung erfahren durften, haben die Schüler des Ratsgymnasiums unter der Leitung von Lehrer Ulrich Stracke sehr viel Zeit und Arbeit in das beeindruckende Theaterstück investiert, was sich offensichtlich auszahlte.
Erik Larsen (Schüler 12. Klasse des Theodor-Heuss-Gymnasiums Göttingen)