Rezension zu „Telepression“

“Wieder frei zu spielen”

„Wir waren 5123 Stunden in Quarantäne“ lautet die Bilanz aus der Coronapandemie, welche die Darsteller*innen des DS Kurses der 12. Klasse des Gymnasiums Goetheschule aus Hannover ziehen. Was passiert, wenn man auf sich allein gestellt und isoliert vom sozialen Umfeld seine Zeit verbringen muss? Ist doch klar- entspannt zurücklehnen, Fernseher einschalten und den Serienmarathon starten, für den man sonst keine Zeit hat. Was wie ein verlockender Zeitvertreib klingt, entpuppt sich schnell als Einbahnstraße in einen Strudel aus widersprüchlichen Gedanken, Gefühlen und Wirklichkeitserlebnissen. Inspiriert von eigenen Erfahrungen und Recherchen verarbeitet die Gruppe in ihrem Stück „Telepression – Die Reise zu mir selbst“ unter der Leitung von Nicole Thaler diverse Wirklichkeitserfahrungen während der Pandemiezeit in Isolation von der Außenwelt. Zurückgeworfen auf sich selbst durchlebt die Hauptfigur dabei innere Konflikte, Ängste, Einsamkeit, Aggression und kämpft immer wieder um die „richtige“ Perspektive zwischen harter Realität und traumhafter Illusion. Die eigenen vier Wände verwandeln sich hierbei während des TV-Konsums immer wieder in diverse Schauplätze der Film-Welt, in die sich die Figur flüchtet: So spaziert plötzlich ein Kamel aus einer Tierdoku durch das Wohnzimmer, dann findet sich die Hauptfigur als Patient im Krankenhaus von Ärzten umgeben oder darf in einer Therapiesitzung ein Eifersuchtsdrama verarbeiten. Wirkungsvoll bedient sich die Gruppe in der Darstellung der Hauptfigur des Figurensplittings, welches z. B. an derselben Kostümierung mit rosafarbenem Pulli deutlich wird. Die verschiedenen Einzel-Szenen werden kompositorisch mittels Variation und Wiederholung verbunden und münden immer wieder in einer Steigerung an widersprüchlichen Gedanken und dem Wunsch, daraus zu entfliehen. Ebenso werden chorische Spielformen eindrucksvoll genutzt, um die innere Zerrissenheit der Figur z. B. akustisch durch ein Stimmengewirr oder proxemische Mittel zu verdeutlichen. Atmosphärisch verdichtet und untermalt wird das Innenleben der Figur dabei ausdrucksstark mit Hilfe von live gespielter Cello- und Klaviermusik sowie Stroboskoplicht. Zudem weckt der Einsatz einer Live-Kamera, mit der das Bühnengeschehen aus einer anderen Perspektive eingefangen und an die Leinwand projiziert wird, passend die Assoziation zu Selbstbespiegelung oder zur Selbstinszenierung, welche aus der Isolation resultiert. Darüber hinaus gibt es immer wieder kurze Videoeinspielungen, in denen die Darsteller*innen aus einer Außenperspektive teilweise biografische Statements geben. Zu guter Letzt sieht sich die Figur im Zwiegespräch mit der „roten“ und blauen Pille“ mit der Frage konfrontiert, ob sie die rote Pille und somit den verklärten Blick einer Traumwelt konsumieren möchte, oder sich doch für die blaue Pille entscheidet, welche den Blick für die harte Realität schärft. Beendet wird die Telepression schließlich durch das Ende der Quarantäne und der Reise zurück zum Selbst, welches die Gruppe chorisch am Ende des Stücks verkündet: „Wir sind frei!“ Ob die neu gewonnene Freiheit und die neue Realität schön oder hart sind, bleibt dem Publikum selbst zu beurteilen. Das Publikum dürfte sich auf jeden Fall gefreut haben, dass die Gruppe die neu gewonnene Freiheit für ihre Aufführung im LOT -Theater nutzte.

Janina Jente

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