„Ich unraste gleich aus“ – Filmessays gegen den verordneten Stillstand
Zwei Schülerinnen und zwei Schüler der IGS Peine (Jg.13) haben sich dem Motto „Laufen“ gewidmet und vier sehenswerte Kurzfilme dazu gedreht. In ihnen beschäftigen sie sich mal poetisch mal realistisch, mal heiter mal düster mit den Auswirkungen des verordneten Stillstands in der Pandemie.
„Jane Doe“ ist ein sehr persönlicher und poetischer Filmessay von Naja Dreyer, die unverkennbar Erfahrungen mit der Produktion literarischer Texte hat. Ihr Film besteht aus zwei Teilen (wenn man die Outtakes noch dazu nimmt, sind es sogar drei Teile).
Der erste Film ist vorwiegend in Schwarz-Weiß gehalten, wobei die Farben mit weiteren Filtern noch nachbearbeitet sind. Eine junge Frau mit Maske und hell-dunkel geschminkten Lippen setzt sich zur Musik von Molchat Doma in Bewegung. Die Kamera fängt zuerst die Stiefelette mit Nieten ein, dann den begleitenden Hund Taylor, bis schließlich die ganze Person zu sehen ist. Die Szenerie, die sie durchquert, mal gehend, mal stehend, mal sich anlehnend, sind die freie Natur, ein Feldweg, Bäume, eine Scheunenwand und immer wieder ein roter Stuhl im grünen Gras. „Einfach sich bewegen“, nimmt sie sich vor. Aber ihr Bewegungsdrang kommt aus einer inneren Unruhe: „Ich unraste gleich aus. Ich raste aus, weil ich nicht weiß, wohin. Ich mag es hier nicht und ich mag mich nicht.“ Während der Text assoziativ sich weiterspinnt über die Themen Angst, Liebe und Sinnlosigkeit, behaupten die Bilder Eindrücke von Sehnsucht, Melancholie und Abgeschiedenheit.
Im zweiten Teil des Films dominieren Farben, wie sie die Natur bietet, vor allem ein schönes, sattes Grün. Eine Holzwand wird eingefangen, ein Bach sprudelt vor sich hin. Die Situation hat sich radikal verändert: „Endlich kannst du wieder atmen“ heißt es. Und wurde im ersten Teil noch düster behauptet, „wir sind alle allein, wir sterben einsam“, heißt es jetzt: „Niemand kann jemals einsam sein“. Die Sinne werden wieder aktiviert, die Natur intensiv wahrgenommen. Die Musik wendet sich mit Shakey Graves‘ Jane Doe zum Flirrenden, Lebhaften, zu neuer Munterkeit. Will man im gegenwärtigen Kontext bleiben, könnte man damit das Wiedererstarken nach dem Lockdown assoziieren. Die Unrast ist verschwunden: „Gesegnet sei, wer geht“. Ein eindringlicher, stimmiger Film ist Naja Dreyer gelungen, ein Film, der von einem ausdrucksvollen poetischen Text ausgeht und dazu Bilder findet, die besonders sind, ohne manieriert zu sein.
„Rausatmen“ von Joscha Harms nimmt sich Jakob Bruckners schwebende Songzeilen „Atme aus, atme ein“ als Motto und wählt sie als Soundtrack für eine Bildcollage, die sich aus öffentlichen Bildern, die an den Textzeilen orientiert sind („Astronauten für die Ewigkeit“, „Die Welt so klein“, „Lichter im Lichtermeer“) und aus frei assoziierten privaten Aufnahmen (gerne mit spielerischen Effekten) zusammensetzt. Die Bilder werden dabei kontrastierend angelegt: glückliche, freie Momente stehen neben Katastrophen, kleine fröhliche Augenblicke werden neben große Ereignisse der Weltgeschichte gestellt. In einer Liedpause zeigt die Kamera in einem ruhigen Moment den Akteur selbst mit einer Stoffmaske – Sinnbild der Atemprobleme und des Stillstands in unserer Pandemiezeit. Am Ende fährt noch ein Rollator ohne Besitzer ins Bild – Anspielung an die vielen Opfer in hohem Alter während der Pandemie?
„Gray World“ ist in Schwarz-Weiß gedreht und bildet ein Endzeit-Szenario ab. Ein junger Mann, der sich „Hope“ nennt, kommt in einen Kellerverschlag und findet einen „echten Menschen“ mit „einer bunten Seele“ und nimmt sich vor, ihn dort herauszuholen. Den, der abgeholt wird, bekommt man nicht zu sehen, stattdessen begegnen wir am Wegesrand Figuren aus einem Endzeitdrama, die Texte sprechen, als seien sie Figuren aus Gorkis „Nachtasyl“. Sie werden allesamt vom selben Schauspieler gespielt, der damit sein lustvolles Spiel mit der Verwandlung unter Beweis stellt. Als der „Mensch“ nach den Figuren fragt, wird ihm gesagt, dass sie Inkarnationen der inneren Dämonen seien. Der Erlöser führt uns schließlich ins zaghaft Grüne. – Ein echtes Pandemiestück aus dem Geist unserer Zeit, originell gespielt und glaubwürdig in der Anlage.
Im letzten Kurzfilm „Kampf zwischen Gut und Böse“ schauen wir zunächst in bunte Wälder und nähern uns aus der Vogelperspektive. Auch hier befinden wir uns in einem apokalyptischen Szenario, rennt doch eine junge Frau, nur bekleidet mit einem Laken und Turnschuhen, richtungslos durch den Wald, angetrieben und verfolgt von inneren Stimmen: „Entzieh dich dem System, der Überwachung, mach das, was du für richtig hältst“. Doch eine dämonische Stimme rät ihr, ihm zu gehorchen, ihm, der über das herrscht, „was reglos und kraftlos ist“. So stehen sich hier zwei Prinzipien gegenüber, die miteinander im Wettstreit liegen: Bewegung und Stillstand. Die junge Frau stürzt und wird vom Herrscher über den Stillstand in eine Marionette verwandelt. Schwarz gekleidete Helferinnen führen die Hilflose und bringen ihr die Rhythmen der Automatisierung bei. Doch sie kann sich losreißen, erwacht wie aus einem Alptraum und rennt am Ende glücklich mit einer Geretteten und einer Desertierten davon.
Auch hier werden filmische Mittel gezielt eingesetzt und es bleibt zuletzt die Erkenntnis, dass viele Schülerinnen und Schüler, auch wenn sie dieses Jahr weniger Theater gespielt haben, sich umsomehr und letztlich erfolgreich in Filmästhetik ausprobiert haben.
von Claus Schlegel